Vera Röhm
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Ausstellungen   2009   Welt als Bild und Vorstellung
Welt als Bild und Vorstellung
11. Oktober – 8. November 2009
Städtische Galerie, Kunstverein Speyer, Kulturhof Flachsgasse


Röhm

Vera Röhms (*1943 Landsberg) Werk steht formal in der Tradition des Konstruktivismus und in den Debatten um die zeitgenössische Konkrete Kunst wird die Künstlerin als unorthodoxe Vertreterin dieser Richtung genannt. Ihr Oeuvre ist von beeindruckender Vielschichtigkeit und Kontinuität.
Ihre Interessen für Geometrie, Astronomie, Astrophysik bilden eine Einheit, sie begründen Vera Röhms künstlerisches Schaffen mit dem Phänomen von Raum und Zeit. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung wird in ihren Arbeiten sichtbar, die geistige, physikalische und kosmische Aspekte in unterschiedlichen Medien visuell fassbar machen.
Die Künstlerin bevorzugt die klare Formensprache des Minimalismus; die stereometrischen Körper des Würfels und des Tetraeders nehmen daher einen zentralen Platz in ihrem Werk ein. Röhms Arbeitsweise kann mit einem experimentierend-wissenschaftlichen Vorgehen verglichen werden, da sie immer wieder in Serien arbeitet, und hier insbesondere das Verhältnis von Licht und Schatten untersucht.
Aus dem umfangreichen Werk der Künstlerin zeigt die Ausstellung in der Städtischen Galerie Speyer einen Einblick in verschiedene Werkzyklen. Die Themen in Speyer sind die Serie der Module, die Tetraeder-Segmente, die Astronomiewand, sowie die Photographien des Observatoriums in Jaipur/Indien und die Textarbeiten zu "Die Nacht ist der Schatten der Erde".

 

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Haack

Seit 1981 malt, zeichnet, collagiert und schreibt Horst Haack (*1940 Neubrandenburg) an seinem außergewöhnlichen Hauptwerk, der "Chronographie Terrestre (Work in Progress)", einem Projekt künstlerischer Selbst- und Weltreflexion in der Form eines Tagebuchs. "Fundstücke" unserer Medienwelt kombiniert er mit eigenen Bildschöpfungen und reichert sie mit handschriftlichen Kommentaren, Reflexionen und Zitaten an.
So erschafft er einen künstlerischen Kosmos, in dem Bilder und Texte ineinanderverschlungen immer neue Welten kreieren, ein Bildgeschehen, das in seiner Intensität eine besondere Faszination auf den Betrachter ausübt.
Der Kunstverein Speyer präsentiert die "Chronographie Terrestre (Work in Progress)" in einer groß angelegten Installation, sowie weitere Zyklen von Horst Haack, darunter eine Neuinterpretation der "Apokalypse" nach der Offenbarung des Johannes, und eine Reihe von Künstlerbüchern. Sie übersetzen das humanitäre Anliegen des Künstlers, wie es sich in den o.g. Werkgruppen darstellt, in eine ganz eigene heitere Bildwelt. Horst Haacks Werke wurden in zahlreichen Museen europaweit gezeigt. Derzeit ist die Arbeit "La Fin du Monde - Reloaded" in der Ausstellung "Fin >Reload" in Paris zu sehen.

Ausstellungsplan Speyer

Saal 2:
Speyer
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© Vera Röhm
Einschnitte im Würfelsystem, Würfelmodule
Foto: Wolfgang Lukowski


Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:
Vera Röhm: Topos x Chronos : 2 – Horst Haack: Chronos mal Topos durch Zwei; Städtische Galerie, Kulturhof Flachsgasse (Hg.); Justus von Liebig Verlag Darmstadt. ISBN 978-3-87390-272-5

 

Lida von Mengden
Modulare Strukturen im Werk von Vera Röhm

 

Bei meinem letzten Gespräch mit Vera Röhm1) bemerkte die Künstlerin, sie sei an den grundlegenden Formen der Menschheitsgeschichte interessiert, genauer, an jenen Formen oder Erkenntnissen, die auch heute noch von existenzieller Bedeutung sind. Mit dieser Aussage steckte Vera Röhm explizit den Bezugsrahmen ihrer Arbeit ab. In diesem Sinne ist auch die sich wie ein Leitfaden durch ihr Œuvre ziehende Auseinandersetzung mit elementaren Prinzipien und universellen Zusammenhängen in der Natur und im Kosmos zu sehen, mit dem Erleben von Raum und Zeit.

Beim Überblick über das Œuvre fällt auf, dass "architektonische Denkmuster"2) das Gesamtwerk prägen, ja, dass sie sogar als die eine Konstante des Werks gelten können; jedoch wird sogleich eine zweite sichtbar, die Untersuchung des skulpturalen Körpers in seinem Verhältnis zum Raum, und dessen Beziehung zum Licht, wobei das Licht als Agens und zeitbezogene Einheit, und insbesondere in seinem Gegenpol, dem Schatten, für Röhm bedeutsam wird.

Vera Röhms Arbeitsweise kann mit einem experimentierend wissenschaftlichen Vorgehen verglichen werden. Daher setzen ihre Werke vor allem in den 70er und 80er Jahren auf ein Ausloten der Dualität von Körper und Schattenwurf, respektive von Materialität und Immaterialität, die sie vermittels serieller Verfahren verfolgt, oftmals durch die graphische Darstellung von Versuchsanordnungen, wobei die formale Veränderung eines stereometrischen Körpers durch den Lichteinfall der Sonne, durch den Schattenwurf, kontinuierlich im Verlauf der Zeit gezeigt wird. Es zeigt sich daher eine gewisse Komplementarität in der Systematik ihres Schaffens – Einfachheit versus Komplexität, Statik versus Veränderung, Einzelobjekt versus Serie. Doch das zentrale Forschungsinteresse der Künstlerin kreist um die Vorstellungen und Darstellungen von Zeit, Raum und Bewegung und deren existenzielle Bedeutung für den Menschen.

Zu den oben erwähnten architektonischen Körpern im Œuvre gehören primär – als zeitlich früheste – die Tetraeder (seit 1974), die sich mit der Pyramidenform auseinandersetzen, die Stele, in den sog. Ergänzungen von Holz und Plexiglas, sowie der Würfel. Alle sind für die Künstlerin zum Gegenstand ausgedehnter und vor allem dem Schatten gewidmeter Studien geworden.

Unter den Arbeiten mit dem Würfel nimmt die Serie der Module einen besonderen Raum ein, nicht nur wegen ihrer vielfältigen architektonischen Bezüge, sondern wegen der konsequenten Auslotung jenes "Baustein-Prinzips", ihrer Zugehörigkeit zu einem Grundmodul, und seinem Variationspotential, sowie ihres skulpturalen Charakters, und der daraus folgenden Untersuchung ihrer Eigenschaften als Körper und der resultierenden Schattenformen.

Die Idee, die die Künstlerin vor fast 25 Jahren entwickelte, bestand darin, den Würfel, der unter den platonischen Körpern als der stabilste angesehen wird, in 5 x 5 Elemente zu gliedern, und durch vertikale Einschnitte jeweils ein Element zu entfernen, um auf diese Weise neue Formen zu kreieren, treppenförmige, u-förmige, u.ä. Körper, die immer den Bezug an die ursprüngliche Ausgangsform aufweisen, gemäß der Definition von Modul3). In ähnlicher Weise hatte Vera Röhm bereits 1974 die Tetraederform zergliedert.

1986 zeichnete sie verschiedene Varianten von Modulformen auf Millimeterpapier, mit Schatten versehen – genauer, mit unterschiedlichen Verschattungen dieser Körper – daher der Titel Module mit Schatten – und experimentierte in immer neuen Serien mit diesen aus dem regelmäßigen Quader abgeleiteten Formen. In den Skizzen lag der Schwerpunkt auf einem Dialog zwischen dem Körper (im Licht) und frontalen oder seitlichen Verschattungen, die durch tiefes Schwarz gekennzeichnet waren. Die Verschattung der gezeichneten Objekte war modellhaft konstruiert – erst in den späteren Serien arbeitete die Künstlerin mit realen Schlagschatten. Dennoch deutete bereits der starke Schwarz-Weiß-Kontrast in den Zeichnungen auf die Wichtigkeit dieser Dualität hin.

Etwa zehn Jahre später, 1994, nahm Röhm das Thema wieder auf, und beschloss, die damaligen Entwürfe beispielhaft als materielle Körper zu realisieren. So goss sie auf der Grundlage dieser Skizzen sieben Gipsmodelle mit einer Kantenlänge von 10 cm, in je zweifacher Ausfertigung4). Die Fotografien der Künstlerin von diesen ersten konkreten Modulen, die starke Schlagschatten zeigen, belegen die Wichtigkeit der Module als Gnomon, als plastische Form und deren Potential, Schattenformen zu erzeugen. Unter Einsatz des Lichteinfalls setzte Röhm die Module als "(Schatten-)Form-Generator" ein. Die Fotografien der Künstlerin dokumentieren diese Absicht, und so konzentriert sich Röhm auch auf extreme Beispiele, so etwa monumentale Schatten, die in Konkurrenz zur Körperhaftigkeit des Objekts treten, kompakte Formen, die Vorsprünge und Kanten einebnen oder Achsensymmetrien, die sich unabhängig vom Modulkörper ergeben. Dennoch stand im Zentrum ihres Interesses auch das latente architektonische Funktionsprinzip dieser Plastiken, was sich deutlich an den unterschiedlichen Konstellationen verfolgen lässt, in denen die Module zu einem Schattenlabyrinth zusammen gestellt wurden. In seinem stadtähnlichen Charakter führt es jene eingangs thematisierten "architektonischen Denkmuster" überzeugend vor Augen.

Die erste Version einer im großen Maßstab realisierten Rauminstallation des Schattenlabyrinths mit ebenfalls 14 Modulen5) wurde 1998 in der Retrospektive auf der Mathildenhöhe Darmstadt in einem Innenraum gezeigt, zum zweiten Mal 2001 in Aschaffenburg im Rahmen der Ausstellung Stadt, Landschaft, Fluss am Flussufer in einer außergewöhnlichen Präsentation, deren überzeugende Ästhetik sich im Außenraum voll entfaltete. Sie verdeutlichte aber auch eindrucksvoll das plastische Potential dieser Arbeit, den Charakter eines Ensembles von in sich einheitlichen und doch verschiedenen Baukörpern.

Diese Module aus weiß lackiertem Aluminium entwickeln mit einer Höhe von 1,70 Meter, eine Maßeinheit, die zwar auf die Körpergröße eines Menschen bezogen ist, dennoch eine außerordentliche Monumentalität, die ihre architektonische Dimension aufs Schönste bestätigt. Beim Durchschreiten des Labyrinths erlebte der Betrachter zum einen die körperhafte Präsenz der Skulpturen und ihre dominante Materialität, und doch erschienen sie in Darmstadt letztlich als nonfunktionale Gehäuse, von einer makellosen Ästhetik, in strahlendem Weiß, wogegen die Aschaffenburger Installation die dorfähnliche Struktur nordafrikanischer Orte, wie etwa Sidi Bou Said, evozierte, das vor fast einem Jahrhundert die Künstler Paul Klee, August Macke und Kuno Amiet auf ihrer Tunisreise zur Befreiung der Farbe inspiriert hatte.

Vorstellungen von Innen–Außen wurden assoziiert, ausgelöst durch sich öffnende und wieder schließende Räume. Hinzu trat der Wechsel von Hell- und Dunkelzonen, in Aschaffenburg bedingt durch die Sonneneinstrahlung, in Darmstadt durch die spezielle Lichtführung im Saal der Mathildenhöhe, so dass die Module teilweise bestrahlt, teilweise verschattet waren. Dieser Wechsel von unterschiedlichen Helligkeiten und Dunkelzonen instrumentierte die Wirkung der Raumkörper; denn neben den Schlagschatten bildeten sich im Umfeld der Module zusätzliche Halbschatten, so dass sich mehrfache Schattenüberlagerungen und Schattenformen in unterschiedlichen Grautönen ergaben.

Im Verlauf ihrer langen Beschäftigung mit dem Schattenthema gab es immer wieder Ansätze zu einer Fixierung von Schattenformen im Œuvre der Künstlerin, die über das Zeichnerische hinausgingen6). So waren in der 24-teiligen Serie der Schattenreliefs 0°–360° die Schattenformen aus Holz gefertigt, in anderen Arbeiten aus Metall, zum Beispiel in "Schattenkuben/Kubusschatten", 1988/89, und in "Schatten Zeit Feld", 1983/86, und so entsprach es einer gewissen Folgerichtigkeit im Werk, auch bei den Modulen einen Schritt weiterzugehen, und eine Körperhaftigkeit der Schattenformen selbst anzustreben. Möglicherweise lieferte die geradezu plastische Raumhaltigkeit der Schlagschatten des Schattenlabyrinths den letzten Anstoß zur zweiten Serie der Schattenmodule, die ihren Schatten nun nicht nur als Lichtprojektion entwickeln, sondern als materielles Substrat fest angefügt dauerhaft mit sich führen. Diese 2003 zum ersten Mal in Beton realisierten Objekte7) mit schwarz lackierten Schattenformen waren aus neuen Varianten von Modul-Entwürfen ausgewählt worden. Vera Röhm hatte 1998 die ursprünglichen Skizzen mithilfe des Computers überarbeitet und eine Reihe zusätzlicher Varianten berechnet. Wie die Künstlerin erklärte, hatte sie die "interessantesten" Beispiele sowohl im Hinblick auf den Modul-Körper als auch die Schattenform nach ästhetischen Kriterien gewählt. Diese Serie, Würfel-Modul mit seinem Schatten genannt, sollte durch die Objekthaftigkeit des Schattens, der nun realiter etwa ein Zehntel der Höhe des Moduls einnahm, eine "Schattenfigur" als zusätzlichen materiellen Bestandteil des Moduls etablieren. Es ging darum zu zeigen, dass durch Projektion, durch den "Umschlag" des Dreidimensionalen ins Zweidimensionale, eine der Modul-Skulptur substanziell zugehörige, jedoch neue autonome Form entstanden war. Röhm wollte diesen Prozess der Formwerdung des Schattens veranschaulichen, um den Schatten – eigentlich eine ephemere Form, die untrennbar mit Zeit und Bewegung verbunden ist – als eine eigene Gestalt sichtbar zu machen. Der solcherart fixierte Schatten, so statisch er als Formgewordener auch anmuten mag, bleibt dennoch zeitbezogen. Ursprünglich einem Bewegungsablauf entnommen, bleibt er Zeichen für den Moment des Verharrens, des Stillstands, und somit der Zeitlichkeit. Die Schatten können somit als "Zeitfelder" bezeichnet werden, die die Module in Raum und Zeit verankern.

Und doch eignet ihnen eine eigentümliche Zeit- und Ortlosigkeit. Sie ist einer Verfremdung geschuldet.

Die schwarze Lackierung unterstreicht diesen Aspekt, weckt Assoziationen an eine Plinthe, den Sockel einer Säule. Es scheint, als höben diese Schatten-Sockel die Module aus dem räumlichen Kontext, als bezeichneten sie fremdes Terrain, eine Grenzziehung, der die unregelmäßigen Formen – auf den ersten Blick keiner geometrischen Regel zuzuordnen – korrespondieren. Die für das Auge ungewohnte Festigkeit und Materialität einer Schattenform löst eine gewisse Irritation aus, ist sie doch Konkretion eines ursprünglich frei Beweglichen, Immateriellen.

Die verdinglichte Schattenform verliert das Ephemere, wird zum Sinnbild einer 'gefrorenen Zeit'. Der Prozess der Verfremdung geht somit mit einem Realitätsverlust einher: "Geistreich ist die Paradoxie der Verdinglichung von Zeitspuren allemal, denn was man zunächst aufgrund der Konkretion als Realitätsgewinn zu betrachten neigt, erweist sich aufgrund der an der Immaterialität von Zeit und Schatten vorgenommenen Verfremdung als Realitätsverlust."8)

Seit den ersten Entwürfen für die Schattenmodule waren fast 20 Jahre vergangen, als Vera Röhm Ende 2005 beschloss, mit den inzwischen exponentiell gewachsenen Möglichkeiten der Computertechnologie die ursprüngliche Idee zu realisieren und das damalige Konzept in seiner Gesamtheit auszuloten, und alle Varianten der Schattenmodule zu berechnen, die innerhalb des klar umrissenen, eng begrenzten Konzepts möglich sind und visuell nachvollziehbar vorgestellt werden können9). Dazu wurde es notwendig, das ursprüngliche Kubus-Modul-Thema – die Teilung des Würfels in 5 x 5 Elemente und das sukzessive Entfernen von jeweils einem Element – durch weitere Handlungsanweisungen (Algorithmen) zu präzisieren und einzugrenzen. Folgende zusätzliche Kriterien wurden eingeführt: Achsensymmetrie bezüglich der Mittel- oder Diagonalachse, Punktsymmetrie, keine losen Teile, keine Innenlöcher, Einschnitte nur senkrecht zur Oberfläche, und mindestens eine komplette Reihe von fünf Elementen in der Horizontalen und der Vertikalen muss stets vorhanden bleiben. Mit diesem Programm ergeben sich 784 Kombinationen10). Da die Künstlerin auf 14 sog. "problematische" Module verzichtete, wurden schließlich insgesamt 770 Module akzeptiert und mit ihren Schatten auf elf Tafeln ausgedruckt. Die systematische Darstellung aller unter diesen Bedingungen möglichen Modul-Körper beginnt mit dem Grundmodul, dem Würfel, dann folgt das Entfernen von einem Element11), dann zwei Elementen12), und so fort, bis schließlich nur noch insgesamt neun Elemente übrig bleiben.

In der nahezu photorealistisch anmutenden Wiedergabe der Modulkörper erscheinen die Objekte in annähernder Aufsicht, in einem leicht nach rechts verschobenen diagonalen Blickwinkel, dem auch die Schatten folgen. Die Abbildung der plastischen Form ist von so frappierender Exaktheit und Präzision, dass die Schattenwürfe als realistische Projektionen realen Sonnenlichts erscheinen.

In der technoiden Exaktheit der Darstellung, der formalen Reduktion sowie der seriellen Anordnung erkennt man die Orientierung an der Formstrenge des Minimalismus. Die repetitive Anordnung ist von bestechender Klarheit, überwältigend in der ungeheuren Anzahl der Objekte, und zugleich von beeindruckender Schönheit.

Die gesamte Installation geht auf eine Versuchsanordnung zurück, in der Vera Röhm in Korsika mit Modulformen im Sonnenlicht experimentiert hatte, und ein Element samt zugehörigem Schlagschatten aufgezeichnet hatte13). Auf dieser Grundlage wurde die räumliche Darstellung von Objekt und Schatten für alle Varianten berechnet. Die Schattenformen werden als eine Art Komplementär dem Modul hinzugefügt, sie sind zugehörig und doch gewinnen sie ein Eigenleben. Es wird deutlich, dass Vera Röhm sich auch hier wieder den Fragen zuwendet, die der Wechsel vom Dreidimensionalen zum Zweidimensionalen aufwirft, ein Thema, das auch Marcel Duchamp interessierte und das er in seinen Arbeiten zur Topologie untersuchte.

Vera Röhms groß angelegte Serie der Einschnitte im Würfelsystem kann nicht ausschließlich als das Formulieren eines Konzeptes in all seinen Implikaten gesehen werden. Es handelt sich gleichermaßen um die Darstellung eines formalen Systems, um den Versuch, die Gesamtheit der innerhalb des Systems befindlichen Einheiten sichtbar zu machen, eine Veranschaulichung des Prinzips des Modularen. Das System Kubusmodul erscheint als ein geschlossener Raum, in dem die in ihm stattfindenden Ereignisse, d. i. die Einschnitte, in ihrem sukzessiven Ablauf überschaubar werden. Die "Aufgabe", und das ist hier der Ort jedes einzelnen Elements im Systems, kann vom Betrachter nachvollzogen werden, obwohl für sich genommen, jedes Modul durch eine gewisse formal-ästhetische Autonomie ausgezeichnet ist.

So verwirrend der Überblick über die 770 Varianten für den Betrachter auch anmutet, fast erdrückend in der schieren Menge der Einheiten, so bietet er doch ein Lehrstück im Hinblick auf die für den menschlichen Verstand kaum fassbaren Möglichkeiten, die dem modularen System innewohnende Variabilität, die zu höchst unterschiedlichen Phänotypen führt, alle ausgehend von einer Grundform entwickelt.

Ein außergewöhnliches formales Experiment, das zeigt, dass sich ausgehend von einem einfachen Grundelement, dem Würfel, selbst mit einfachen programmatischen Operationen, mit nur wenigen Algorithmen, eine Art Formlaboratorium bildet, das der Künstlerin eine systematische Untersuchung und Auswertung der Formqualitäten aller 770 Varianten erlaubt. So hat Vera Röhm bereits damit begonnen, eine neue Serie von Modulkörpern aus MDF zu gestalten, deren Prototypen diesen Einschnitten im Würfelsystem entnommen sind. Angesichts der breitgefächerten Möglichkeiten, wobei auch an Kombinationen von mehreren Modulen zu neuen Einheiten gedacht werden könnte, ist zu erwarten, dass sich Röhm auch weiterhin mit diesem Formenreservoir beschäftigt. Denkt man an die offensichtliche Eignung dieser Plastiken als Baukörper, so überrascht es nicht, dass die Künstlerin bereits vor einigen Jahren damit begonnen hat, ein architektonisches Projekt mit den Modulen zu planen.

Vergegenwärtigt man sich, dass modulare Systeme nicht nur in der Technik eine immer größere Rolle spielen, sondern auch in der neueren Forschung als grundlegend für viele Bereiche in der Natur nachgewiesen wurden, bis hin zur neuronalen Organisation des menschlichen Gehirns, und insbesondere des Cortex14), dann begreift man, warum das Thema der Schattenmodule in Vera Röhms Werk einen bedeutenden Platz einnimmt. Denn das genuine Interesse der Künstlerin entzündet sich gerade an jenen elementaren Prinzipien, die auf universelle Zusammenhänge in der Natur verweisen. In ihrem Werk geht es Röhm daher auch darum, das komplementäre Verhältnis von Natur und ihren Erscheinungen und Technik in Einklang zu bringen. Die Formsprache des Minimalismus, die Serialität und das Bekenntnis zur Präzision erlauben ihr eine Klarheit des Ausdrucks, den sie in eine außergewöhnliche Ästhetik übersetzt, um somit dem Betrachter die tiefer liegenden geistigen Bedeutungsebenen zu eröffnen.

 

1) Beim Gespräch im Atelier in Darmstadt am 6. August 2009.
2) Anca Arghir, Querschnitt durch das Œuvre, Ausst. Kat. Vera Röhm. Schattenwanderungen, Mathildenhöhe, Darmstadt 1998, S. 16–17
3) Der Begriff "Modul" leitet sich von lat. "modulus" ab, zu dt. "Maß, Maßstab". Er bezeichnete ursprünglich eine architektonische Maßeinheit, den halben Säulendurchmesser, eine relative Maßeinheit, mit deren Hilfe Dimension und Proportion in der antiken Formenlehre bestimmt wurde. Vgl. Lexikon Die Zeit, Bd. 10, S. 35
4) Vgl. Ausst.Kat. Vera Röhm, a. a.O., S. 96–106
5) Sieben Module in zweifacher Ausfertigung
6) Vgl. hierzu Peter Volkwein, Schattenerfahrungen im Werk von Vera Röhm, a.a.O., S. 52 ff.
7) Die Höhe der Module beträgt 70 cm, die Höhe des Sockels 7 cm. Eine zweite Gruppe wurde 2007 in Aluminium realisiert in 100 cm Höhe, Sockelhöhe 9 cm. In beiden Fällen waren Modulformen weiß, Schatten schwarz lackiert.
8) Anca Arghir, a.a.O.
9) In Zusammenarbeit mit Peter Linak.
10) Sollte nur auf den Algorithmus der Symmetrie verzichtet werden, würde die Anzahl möglicher Varianten bereits 60 957 (!) betragen; ohne jegliche Einschränkungen würden sich mehr als drei Millionen Varianten ergeben.
11) Hier ergeben sich zwei Möglichkeiten.
12) Hier ergeben sich neun Möglichkeiten.
13) Am 14. Juli 2001, um 11.30 Uhr. Dieser Schatten war auch Vorbild für die Reihe der gebauten Kubus-Modul mit seinem Schatten.
14) Karl R.Popper, John C. Eccles, The Self and its Brain, Springer Verlag, Berlin, Heidelberg, London, New York 1977, 2. Aufl. 1990, S. 235 ff.
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